FOTO CUCCHIAIO SICILIANO
Im Valle dei Templi bei Agrigento. Hier der gut erhaltene Tempel der Concordia.
Autor: Nicolas Eyer, Historiker
In Sizilien war die Zeit der griechischen Kolonisierung, die in etwa vom 8. bis ins 6. vorchristliche Jahrhundert andauerte, sehr intensiv. Die Besiedlung wurde von zwei griechischen Stämmen vorangetrieben: den Dorern, die vor allem auf der südgriechischen Halbinsel Peloponnés und in der südlichen Ägäis ansässig waren, und den Ioniern aus dem nördlichen Ägäisraum. Diese zwei Gruppen kolonisierten auch die Küsten Süditaliens an der Adria, dem Ionischen und dem Tyrrhenischen Meer, bis hinauf ins Gebiet des heutigen Napoli. Einzig im Süden Kalabriens herrschten achaiische Siedler, die aus dem Nordwesten der Halbinsel Peloponnés stammten, vor.
Náxos, das heutige Giardini Naxos auf Sizilien, die erste Kolonie auf der Mittelmeerinsel, wurde vom ionischen Chalkís aus gegründet, ebenso wie Kýme (nördlich von Neapel) und Rhégion, heute bekannt als Reggio Calabria. Syrakús hingegen war eine korinthische Gründung, während Leontínoi und Zánkle, das spätere Messéne und heutige Messina, wiederum von Chalkídiern besiedelt wurden. Katáne, später Aítne genannt, das moderne Catania, war seinerseits eine Gründung des weiter nördlich gelegenen Náxos. Auch die Stadt Eléa (oder lateinisch Vélia) in Kalabrien war eine ionische Gründung, die nun aber von Kleinasien aus besiedelt wurde. Die ebenfalls kalabrische Stadt Króton und Metapóntion in der Basilicata waren achaiische Gründungen.
Dorer aus Rhódos sowie Kreter gründeten Géla, heute Gela, auf Sizilien, welches seinerseits Akrágas, unser heutiges Agrigento, als Tochtergründung nach sich zog. Das ostsizilische Mégara Hyblaía wurde vom griechischen Mégara aus besiedelt und gründete selbst die Kolonie Selinoús, die wir unter dem italienischen Namen Selinunte kennen. Táras, das heutige Taranto, blieb die einzige genuin spartanische Koloniegründung, während Poseidonía oder Paestum, südlich des modernen Salerno, entweder vom unteritalienischen Sýbaris oder direkt von dessen griechischer Mutterstadt Troizén aus besiedelt wurde.
Eine pólis mit immerhin einigen tausend bis zehntausend Einwohnern hatte einen durchaus erheblichen Ressourcenbedarf. Vor allem die Landwirtschaft benötigte genügend Land, um alle Einwohner und Besucher der Stadt ernähren zu können. Dieses musste der einheimischen Bevölkerung abgerungen werden, was aber meist friedlich geschah, da die Einheimischen gerade auf Sizilien vorwiegend im Hinterland lebten. Immerhin wissen wir aber von der griechischen Besiedlung der zu Syrakús gehörenden Insel Ortígia, dass die Kolonisten zunächst die ansässige Bevölkerung vertreiben mussten. Vereinfacht lässt sich sagen, dass die Siedler aus dem dorischen Kulturkreis weniger tolerant mit der Urbevölkerung umgingen als die Ionier.
Der Siedlungskern von Syrakús auf der Insel Ortígia, zeichnet sich durch seine unregelmässige Form aus.
Die Planer wussten das Beste aus dieser Situation zu machen. So durchziehen die stenopoí die Insel nun in ungefähr ost-westlicher Richtung, also senkrecht zu jenen in Paestum. Die plateíai, also die breiteren Hauptstrassen, sind gegenüber den stenopoí etwas verkippt, so dass sie der Längsachse der Insel folgen.
Dabei entstanden nun nicht mehr rechtwinklige Bebauungsblöcke, sondern solche in Form eines Parallelogramms. Trotzdem scheint es, als ob diese Aufteilung des Siedlungsraums in der Näherung die gerechteste Parzellierung hervorbrachte. Die beiden Stadtheiligtümer des Apóllon im Norden und der Athéne in der Mitte der Insel waren an den stenopoí ausgerichtet und lagen wiederum an einer der Hauptstrassen. Diese Struktur ist übrigens auch noch im heutigen Stadtbild vorhanden; so enthält etwa die Kathedrale in weiten Teilen Überreste des antiken Athéne-Tempels, und manche Strassenzüge orientieren sich nach wie vor am antiken Raster.
Man kann somit ohne Übertreibung sagen, dass das Hippodamische Schema in den grossgriechischen Kolonien entwickelt und erprobt, modifiziert und perfektioniert wurde. Und obwohl es vermessen wäre zu behaupten, dass moderne Stadtplaner nicht von selbst auf die Idee eines schachbrettartigen Gliederungssystems gekommen wären, zeigt sich hier doch auch die Vorreiterschaft der alten Griechen und speziell ihrer sizilischen und unteritalienischen Kolonien.

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UNESCO Weltnaturerbe. Das Valle dei Templi am Stadtrand von Agrigento ist in dieser Grösse und Vielfalt einmalig.